Studie im Auftrag des HSI

Die Arbeitsbedingungen in der Paketzustellung sind zum Teil extrem schlecht. Werkverträge an Subunternehmen und Leiharbeit zu verbieten, könnte dagegen helfen – und wäre rechtlich möglich. Das zeigt ein neues Gutachten von Rechtswissenschaftler*innen für das Hugo-Sinzheimer-Institut (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Die Missstände in der Paketbranche sind unübersehbar und haben die Politik auf den Plan gerufen: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat im April neue Vorgaben für den Arbeitsschutz in diesem Bereich angekündigt, unter anderem sollen Pakete über 20 Kilo nur noch von zwei Personen zugestellt werden dürfen. Der Bundesrat hat im Mai die Bundesregierung aufgerufen, für die Paketzustellung die Vergabe von Werkverträgen an Subunternehmen zu verbieten – wie es die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di schon länger fordert. Ob ein solches Verbot mit dem Grundgesetz und EU-Recht vereinbar wäre, haben Anneliese Kärcher und Prof. Dr. Manfred Walser von der Hochschule Mainz im Auftrag des Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeits- und Sozialrecht untersucht. Ergebnis des Gutachtens, das heute auch auf einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt wird: Einem "Direktanstellungsgebot", das verschlungene Konstruktionen mit Subunternehmen verhindern würde und an bereits bestehende Regelungen in der Fleischwirtschaft angelehnt sein könnte, steht rechtlich nichts im Wege.

Die Entwicklung in der Paketbranche weist laut dem Gutachten eine deutliche Unwucht auf: Das Geschäft boomt, dank der zunehmenden Bedeutung des Onlinehandels hat sich das Sendungsvolumen innerhalb von zehn Jahren verdoppelt und 2021 mit 4,5 Milliarden beförderten Paketen ein neues Rekordhoch erreicht. Die Zustellerinnen und Zusteller scheinen davon aber wenig zu haben: Der Stundenlohn von Vollzeitbeschäftigten, der 2009 im Schnitt bei 17,12 Euro lag, betrug 2020 gerade einmal 17,13 Euro, was einem realen Minus von 15 Prozent entspricht. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit hat in der Branche in den vergangenen Jahren immer wieder "eklatante Verstöße" gegen das Mindestlohngesetz festgestellt. Von gewerkschaftlicher Seite und von Beratungsstellen wird berichtet, dass unbezahlte Überstunden ebenso verbreitet sind wie unberechtigte Lohnabzüge für Verzögerungen oder Schäden an Paketen und Fahrzeugen. Pausen fallen demnach regelmäßig aus, die Höchstarbeitszeit wird oft weit überschritten. Gleichzeitig ist die Arbeitsbelastung enorm, 2018 fühlten sich 59 Prozent der Beschäftigten körperlich und 34 Prozent emotional erschöpft.

Missstände hängen mit Auslagerung an Subunternehmensketten zusammen

Kärcher und Walser legen dar, dass diese Missstände mit der Struktur der Paketbranche zusammenhängen. Von den sechs großen Konzernen, die den Wirtschaftszweig hierzulande dominieren, lasse nur DHL Pakete nahezu vollständig von der eigenen Belegschaft zustellen. Die anderen Unternehmen setzten zu einem mehr oder weniger großen Anteil auf kleine oder mittelgroße Subunternehmen. Amazon etwa beschäftige überhaupt keine Stammarbeitskräfte in der Zustellung, sondern habe diesen Bereich komplett ausgelagert. Insgesamt sei fast die Hälfte der Zustellerinnen und Zusteller in Deutschland bei Subunternehmen angestellt, 2 Prozent von ihnen seien soloselbstständig. Über die Jahre sei "eine stark zerklüftete Branche mit vielen Kleinstunternehmen" entstanden, 88 Prozent der insgesamt 14400 Unternehmen in der Branche hätten weniger als 20 Beschäftigte.

Die beiden Fachleute erklären diese Entwicklung mit der harten Preiskonkurrenz: Insbesondere im Onlinehandel seien Versand- und Rücksendekosten ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor. "Die letzte Meile", also die Beförderung der Pakete vom Depot zur Kundschaft, mache wiederum gut drei Viertel der Kosten insgesamt aus. Indem die großen Konzerne diesen Teil der Dienstleistung auslagern, können sie den Preisdruck durch rigide Vorgaben an ihre Subunternehmen weitergeben, ohne für die Folgen arbeitsrechtlich geradestehen zu müssen. Am Ende der Kette stünden die abhängig Beschäftigten der Subunternehmen und die Soloselbstständigen, die für wenig Geld ein enormes Arbeitspensum bewältigen müssen, um die Vorgaben der großen Anbieter zu erfüllen.

Die Vergabe der Paketzustellung an Subunternehmen gesetzlich zu verbieten, um diesem Treiben ein Ende zu machen, wäre zweifellos ein Eingriff in die Berufsfreiheit, schreiben Kärcher und Walser. Ein solcher Eingriff müsse aus verfassungsrechtlicher Sicht "durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt werden, geeignet und erforderlich sein". Zudem müsse bei der Gesamtabwägung "die Grenze der Zumutbarkeit" beachtet werden.

Transparenz und klare rechtliche Verantwortlichkeiten durch Direktanstellungsgebot

Ein Direktanstellungsgebot würde in erster Linie auf den Schutz der Beschäftigten vor erheblichen Missständen abzielen, heißt es in dem Gutachten. Es würde zwar nicht automatisch zu besseren Arbeitsbedingungen führen, aber Transparenz schaffen und klare rechtliche Verantwortlichkeiten herstellen. Strukturelle Verstöße gegen arbeitsrechtliche Vorgaben dürften seltener werden, wenn die großen Paketdienstleister dafür haftbar gemacht werden können. Die Beschäftigten, die bei den derzeitigen undurchschaubaren Subunternehmerketten teilweise nicht einmal wissen, wer juristisch ihr Arbeitgeber ist, könnten leichter ihre Ansprüche durchsetzen. Die Behörden könnten effektive Kontrollen durchführen.

Gleichzeitig wären die Voraussetzungen für mehr betriebliche Mitbestimmung geschaffen, an der es momentan in der Paketbranche schon deshalb mangelt, weil viele der unzähligen Kleinstunternehmen gar nicht die gesetzlich nötige Größe aufweisen. Mehr Betriebsräte wiederum würden dazu beitragen, die Rechte der Beschäftigten durchzusetzen, unter anderem in Sachen Arbeits- und Gesundheitsschutz. Darüber hinaus würde auch das Tarifsystem stabilisiert, das bisher darunter leidet, dass kaum ein Subunternehmen Mitglied in einem Arbeitgeberverband ist und die Gewerkschaften unmöglich Firmentarifverträge in tausenden Kleinstunternehmen durchsetzen können. Die Rahmenbedingungen für eine funktionsfähige Tarifautonomie sicherzustellen, sei dabei genauso wie der Schutz von Beschäftigten eine staatliche Aufgabe. Schließlich dürfte ein Direktanstellungsgebot noch dazu beitragen, dass Steuern und Sozialabgaben korrekt abgeführt werden und Verkehrsdelikte, zu denen Zustellerinnen und Zusteller unter extremem Zeitdruck häufig gezwungen sind, vermieden werden. Alles in allem sei ein solches Gebot geeignet, eine Vielzahl legitimer Zwecke zu erreichen.

Zur Erreichung dieser Zwecke dürfe es keine gleich effektiven, aber milderen Mittel geben, damit der Eingriff in die Berufsfreiheit auch als erforderlich gelten kann, schreiben Kärcher und Walser. Nach ihrer Einschätzung ist das tatsächlich der Fall. Mehr gesetzliche Vorgaben – wie ein Verbot von sachgrundlosen Befristungen oder eine verschärfte Pflicht zur Arbeitszeitaufzeichnung – wären zwar unter Umständen auch sinnvoll. Es gebe aber in der Paketzustellung ein "Durchsetzungsdefizit", das in der Branchenstruktur fußt, die zur Verschleierung von Verantwortlichkeiten beiträgt. Aus ähnlichen Gründen wären eine Stärkung der Kontrollbehörden, eine Lizenzpflicht für die Paketzustellung oder eine "Nachunternehmerhaftung" für arbeitsrechtliche Unregelmäßigkeiten bei Subunternehmen ebenfalls keine ausreichende Lösung für die bestehenden Probleme: Intransparente Subunternehmerketten machten Kontrollen extrem aufwendig und eine ausreichende Kontrolldichte praktisch unmöglich.

Unter dem Strich stellen die juristischen Fachleute fest, dass der Eingriff in die Berufsfreiheit der Subunternehmer zwar "zweifellos von nicht unerheblicher Intensität" ist. Die betroffenen Schutzgüter – wie der Arbeits- und Gesundheitsschutz und damit das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – seien allerdings von überragender Bedeutung. Die rein wirtschaftlichen Interessen der Paketunternehmen wögen das nicht auf. Bei einer "Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der den Eingriff rechtfertigenden Gründe" erscheine ein Direktanstellungsgebot zumutbar und damit verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

Schlupfloch Leiharbeit

Kärcher und Walser weisen auf die Gefahr hin, dass Unternehmen bei einem bloßen Verbot von Werkverträgen Beschäftigung in großem Stil in die Leiharbeit verlagern könnten, um Direktanstellungen zu vermeiden. Insofern gebe es "gute und verfassungsrechtlich tragfähige Gründe" nicht nur Werkverträge, sondern auch Leiharbeit in der Paketzustellung zu verbieten.

Die Gutachtenden haben auch geprüft, inwieweit ein Direktanstellungsgebot mit EU-Recht vereinbar wäre. Ein entsprechendes Gesetz würde demnach unzweifelhaft die Dienstleistungsfreiheit beschränken. Eine solche Beschränkung könne aber unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein, die sich weitgehend mit den verfassungsrechtlichen Kriterien decken.

Der Europäische Gerichtshof habe bereits mehrfach bestätigt, dass der Schutz von Beschäftigten ebenso wie die Beseitigung von "strukturellen faktischen Kontrolldefiziten" staatliche Eingriffe rechtfertigen können. Auch eine Diskriminierung liege nicht vor, weil ein Verbot von Subunternehmen unterschiedslos für inländische und ausländische Anbieter gelten würde.

*Anneliese Kärcher, Manfred Walser: Vereinbarkeit eines Direktanstellungsgebots in der Paketzustellung mit dem Verfassungs- und Unionsrecht, HSI Working Paper Nr. 18, September 2023. Download: https://www.boeckler.de/…

Das Gutachten ist heute auch Thema auf einer Pressekonferenz der Gewerkschaft ver.di zur Situation in der Paketbranche. Mehr dazu: https://www.verdi.de/presse

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