„Warum wir nicht älter werden“

Volkskrankheiten nagen an unserer Lebenserwartung. „Seit 2012 stagniert der Anstieg des durchschnittlichen Lebensalters in Deutschland“, sagt Professor Dr. Axel Haverich. Diese Entwicklung, so der Vorsitzende der Wissenschaftlichen Sozietät zu Hannover e.V., habe sich schon vor der Corona-Pandemie abgezeichnet. Sein Appell: Die Prävention müsse dringend verbessert werden, damit Menschen länger und gesünder arbeiten und letztlich auch länger leben können. Die Veranstaltung der Wissenschaftlichen Sozietät und der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover in Laatzen trug den Titel „Warum wir nicht älter werden“ und wurde von zahlreichen Gästen aus Politik, Wirtschaft und Sozialversicherung verfolgt.

Bis 2012 sei die Lebenserwartung kontinuierlich gestiegen: „auf über 83 Jahre bei Frauen und 78 Jahre bei Männern“, berichtet der renommierte Herzchirurg und Transplantationsmediziner. „In den 30 vorangegangenen Jahren haben beide Geschlechter je zehn Jahre gewonnen. Damit nehmen wir im europäischen Vergleich Platz 16 bei den Frauen und Platz 15 bei den Männern ein, obwohl unsere Ausgaben für die medizinische Versorgung gestiegen sind“, erklärt Professor Haverich.

Einen ähnlichen Trend beschreibt Jan Miede. „Die Menschen bleiben länger im Erwerbsleben – und werden hier älter“, sagt der Geschäftsführer der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover. Auch habe die durchschnittliche Bezugsdauer von Altersrenten zwischen 1982 und 2012 zugenommen: „Frauen haben 7,8 Jahre länger eine Rente erhalten, Männer 5,9 Jahre.“ Inzwischen steige die Dauer nur noch wenig an, was auch daran liege, dass die Menschen heute später in Rente gingen.

Damit sie bis dahin gesund im Job bleiben können, benötigten die Versicherten Angebote zur Prävention und Rehabilitation „möglichst frühzeitig, umfassend und nahtlos“, fügt Miede an. Schon heute könnten sie den Ü45-Check und das Trainingsprogramm RV Fit der Rentenversicherung nutzen, um den Alltag und das Berufsleben besser zu meistern. Daneben erprobe man innovative Ansätze, um das Risiko einer Erwerbsminderung für verschiedene Altersgruppen und Branchen vorauszuberechnen und mit proaktiven Angeboten frühzeitig gegenzusteuern.

Jüngste Ergebnisse zum Gesundheitszustand von Kindern stellt Dr. Andrea Wünsch vor. Bei Schuleingangsuntersuchungen sei festgestellt worden, dass der Anteil von Kindern mit Übergewicht in der Corona-Pandemie deutlich gestiegen sei. Auch Sprachauffälligkeiten hätten zugenommen, so die Leiterin des Teams Sozialpädiatrie und Jugendmedizin bei der Region Hannover. Mit Projekten für gesunde Ernährung und vermehrter Sprachförderung werde nun gegengesteuert. „Alles, was wir für ein möglichst gesundes Aufwachsen unserer Kinder tun, hilft auch uns allen.“

Daneben berichtet Professor Dr. Siegfried Geyer von der Medizinischen Soziologie der Medizinischen Hochschule Hannover über eine Studie, die die Entwicklung von Volkskrankheiten und ihre Verschiebung in andere Lebensalter umfasst: „Während Herz-Kreislauf-Erkrankungen in den letzten Jahren seltener auftreten, nimmt der Typ-2-Diabetes zu. In der beruflich aktiven Lebensphase beobachten wir die beunruhigende Entwicklung, dass sich die Erkrankungsraten mit der Zeit erhöhen“, sagt der Soziologe.

Welche Konsequenzen diese Entwicklungen für das Sozialversicherungssystem haben können, zeigt Professor Dr. Stephan Thomsen vom Institut für Wirtschaftspolitik an der Leibnitz-Universität Hannover auf. Nach seiner Auffassung spiegele die Lebenserwartung Veränderungen im Verhalten und in der sozioökonomischen Struktur der Gesellschaft wider, die analysiert werden müssten. Das scheitere aber bislang an Datenbeschränkungen. „Das geplante Forschungsdatengesetz könnte diese Hürden verringern, um die Ursachen einer stagnierenden Lebenserwartung zu bestimmen“, ist er überzeugt.

Die wissenschaftliche Sozietät zu Hannover ist ein interdisziplinärer Zusammenschluss von Akademikern der Leibniz Universität, der Medizinischen Hochschule, der Tierärztlichen Hochschule und der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Sie will auf die stagnierende Lebenserwartung aufmerksam machen und möchte Studien zur Analyse von Ursachen initiieren. Darauf aufbauend sollen vorhandene Daten genutzt werden, um Prognose-Indizes zu entwickeln, möglichst individuell auf das Lebensalter und bereits bestehende Erkrankungen bezogen. Nach heutiger Einschätzung müssten präventive Maßnahmen für Menschen aller Altersgruppen, einschließlich Kindern ab dem Vorschulalter, aber auch für Versicherte im Erwerbsleben weiter verbessert werden, mahnt Professor Haverich.

Durch die Veranstaltung führte der Politikwissenschaftler Dr. Winfried Kösters.

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