Kindeswohl statt Lagerhaft

Als Teil eines Bündnisses von mehr als 50 Organisationen fordert die Kinderrechtsorganisation terre des hommes von der Bundesregierung die Abkehr von ihren Plänen zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Mit Blick auf das bevorstehende Treffen der EU-Innenminister am 8. Juni appelliert das Bündnis an die Bundesregierung, ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu werden und ihren eigenen Koalitionsvertrag ernst zu nehmen. Es darf keine Kompromisse auf Kosten des Schutzes und der Rechte geflüchteter Kinder und Jugendlicher geben. 

Ausgerechnet rund um den 30. Jahrestag des Asylkompromisses von 1993, dem bislang schärfsten Einschnitt in das deutsche Asylrecht, bereitet die Bundesregierung gemeinsam mit den anderen europäischen Mitgliedsstaaten einen ähnlichen Einschnitt in das europäische Asylrecht vor. Gemeinsam mit mehr als 50 weiteren Organisationen lehnt terre des hommes die Ende April in der Regierung geeinte deutsche Position zur Reform des sogenannten gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS) entschieden ab. Die Reformpläne würden Haftlager an den EU-Außengrenzen nach sich ziehen und könnten zu einer Abkehr von inhaltlichen Schutzprüfungen Geflüchteter in der EU führen. Aus kinderrechtlicher Sicht verletzen die Reformvorschläge zudem das Kindeswohl sowie grundlegende Rechte gemäß der UN-Kinderrechtskonvention. 

»Dass die Bundesregierung den Weg der Entrechtung geflüchteter Menschen in der EU, allen voran Kindern und Jugendlichen, mitzugehen plant, ist inakzeptabel. Käme es am 8. Juni unter den europäischen Innenminister*innen zu einer Einigung, könnten Asylanträge von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in der EU weitläufig als unzulässig ablehnt werden, weil ihnen in einem außereuropäischen Land auf dem Papier ein Minimum an Schutz gewährt werden kann. Dies steht in eklatantem Widerspruch zu Kinder- und Menschenrechten, aber auch zum Bekenntnis der Bundesregierung, jedes Asylgesuch in der EU inhaltlich zu prüfen. Im schlimmsten Fall bedeutet es einen Rückzug aus dem Flüchtlingsschutz in der EU, vergleichbar mit dem deutschen Asylkompromiss von 1993«, erklärte Sophia Eckert, Expertin für Migration und Flucht bei terre des hommes. 

In den Reformvorschlägen fehlt es zudem an einer systematischen und praktisch durchsetzbaren Sicherstellung der Rechte von Kindern. So sind Vormundschaft und Rechtsbeistand für unbegleitete Minderjährige ab dem ersten Tag nicht gewährleistet. Im sogenannten »Screening«, das die Weichen für ein beschleunigtes Verfahren an der Grenze oder ein normales Verfahren stellt, werden Minderjährige zudem absehbar in Haftlagern oder haftähnlichen Einrichtungen untergebracht. Auch Alterseinschätzungen würden vielfach unter Haft oder haftähnlichen Bedingungen stattfinden, noch dazu gibt es keine Möglichkeit, gegen fehlerhafte Alterseinschätzungen vorzugehen. Ohne angemessene Möglichkeiten, Rechtsmittel einzulegen, können die Rechte von Kindern und Jugendlichen jedoch nicht geschützt und damit ihr Wohl nicht gewährleistet werden. 

»Aus kinderrechtlicher Sicht sind die Reformvorschläge verheerend. Selbst wenn Minderjährige, wie im Screening wahrscheinlich, nur einige Tage in Haft verbringen, kann sich diese Zeit für sie aufgrund ihres intensiven Zeitempfindens wie Monate anfühlen – mit allen körperlichen und psychischen Folgen, die Haft bei Kindern haben kann. Die Inhaftierung von Minderjährigen zur Migrationskontrolle verletzt die Kinderrechtskonvention. Dies muss bei einer europäischen Asylrechtsreform berücksichtigt werden«, erklärte Sophia Eckert. »Zumindest will sich die Bundesregierung auf EU-Ebene dafür einsetzen, Minderjährige von den bis zu zwölf Wochen dauernden, beschleunigten Asylverfahren in Haftlagern an der Grenze auszunehmen. Sie darf in diesem Punkt in Brüssel auf keinem Fall nachgeben. Das Gefeilsche um willkürliche Altersgrenzen ist kinderrechtlich unhaltbar. Denn die Kinderrechtskonvention schützt alle Personen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.« 

Ähnlich dem Asylkompromiss 1993 in Deutschland entstehen die europäischen Asylrechtsverschärfungen in einem Klima des wachsenden rechtspopulistischen Drucks in der EU. terre des hommes und die europäischen Partnerorganisationen beobachten zugleich eine steigende Bereitschaft zu Gewalt und Rechteverletzungen gegenüber geflüchteten Kindern und Minderjährigen. Wie beispielsweise eine gemeinsame Stellungnahme von terre des hommes und Equal Rights Beyond Borders zeigt, werden auf der griechischen Insel Kos schon jetzt Minderjährige inhaftiert und in ihren sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechten auf das Gröbste verletzt. terre des hommes fordert gemeinsam mit vielen anderen Organisationen die Bundesregierung in ihrem Appell auf, sich diesem Druck und der populistischen Hetze gegen Geflüchtete entschieden entgegenzustellen. Das bedeutet auch, dass es bei einer europäischen Einigung zum Asylsystem keine Kompromisse auf Kosten grundlegender Rechte geflüchteter Kinder und Jugendlicher geben darf. Menschenrechte und die Wahrung des Kindeswohls müssen endlich wieder den europäischen Diskurs bestimmen. Wir fordern: Kindeswohl statt Lagerhaft! 

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